Beobachtungen am Rand einer außergewöhnlichen oekumenischen Bestattung auf dem Hamelner Friedhof Am Wehl
Sie sind die Sternenkinder - denn auf Erden war für sie bisher kein Platz
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Von Ralph Lorenz
Hameln (wbn). „Ich weiß nicht, warum Du gegangen bist und ich weiß nicht wieso es so früh sein musste. Aber ich weiß, dass es sein musste und dass es einen Sinn hatte, denn sonst wärst Du nicht gegangen ohne dass wir uns je wirklich begegnet wären!“ Dies ist der erste, bewegende Satz einer längeren Meditation, mit dem eine trauernde Mutter im Internet ihres vor der Geburt gestorbenen Kindes gedacht hat. Es hieß Jasmin. |
Sie hat ihren Kopf stumm auf die Schulter des Mannes gelegt - und sie folgen der Trauergemeinschaft den Berg hinauf...
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Es war erst vor kurzem, als diese besondere Form der Bestattung Am Wehl stattgefunden hat. Die Weserbergland-Nachrichten.de waren zugegen, hielten sich respektvoll im Hintergrund. Es war einer dieser letzten schönen Herbsttage. Der erste Raureif hatte schon die Grabstätten in der Morgendämmerung dezent gezeichnet. Eine Gruppe Trauernder ging bedächtig den ansteigenden Hauptweg am Friedhof hinauf. Als letztes folgte ein Paar – die Frau hat im Gehen stumm ihren Kopf auf die Schultern des Mannes gelegt. Ihre Hände sind ineinander verschlungen. Vor ihnen gehen zwei alte Damen, um die Siebzig. Vereinzelte Frauen und Männer, die in der frischen Morgensonne ihren Weg gehen. In Gemeinschaft - und dennoch einsam mit ihrem unbekannten Schicksal.
Der Gruppe voran wird ein kleiner, blauer Kindersarg getragen. Die Trauergemeinschaft - etwa 70 Menschen an der Zahl - biegt ein in den Friedhofs-Winkel, der den „Sternenkindern“ vorbehalten ist und taucht nun in das volle Licht der Morgensonne ein. Die beiden älteren Damen dürften über eine Generation hinweg auf diesen Moment sehnlichst gewartet haben (wenn auch auf sie – wie es den Anschein hat – das Schicksal zutrifft, Mutter eines Sternenkindes zu sein, das niemals das Licht der Welt erblicken durfte). Zu ihrer Zeit war es ein „Tabu“ darüber zu sprechen, hatte das Gedenken offiziell keinen Platz. Wagten Teile der Gesellschaft nicht auszusprechen, was die Medizinwissenschaft in Wirklichkeit schon längst wusste: Dass auch schon das früheste Stadium des Lebens eben menschliches Leben ist – und nicht nur eine Ansammlung von strukturierten Zellen im Mutterleib.
Ein letztes Kopfnicken - und ein Abschied nach vielen Jahrzehnten. Eine mehr als 70 Jahre alte Frau tritt an das offene Sternenkinder-Grab
Einzeln kann, wer will, an die anonyme Grabstätte für die Sternenkinder herantreten und seine ganz persönlichen Gedanken hineinlegen. Blüten hineinstreuen, in Erinnerung an ein zartes Leben – zu zart für diese Welt. Einer tritt hervor aus dieser Trauerrunde, die sich zuvor nicht kannte und die das gemeinsame Schicksal an diese letzte Ruhestätte zusammengebracht hat und kniet nieder. Er ringt um Fassung. Und dann fasst auch eine der über siebzigjährigen Frauen den Mut. Und es gleicht einem Bekenntnis. Sie steht aufrecht vor dem offenen Grab, wendet der Trauergemeinde in stummer intimer Andacht den Rücken zu. Bewegungslos, in sich versunken. Und dann nickt sie. Es wirkt wie ein befreiendes Zeichen. Sie hat wohl endlich den Ort gefunden, an dem sie ihr Leid ablegen und sich von ihrem Sternenkind verabschieden kann. Musste sie so alt werden um erleben zu dürfen, dass die weiterentwickelte Trauerkultur unserer Gesellschaft endlich soweit ist sie aus dieser Einsamkeit zu befreien? Ihr ganz persönliches Leid hat jetzt eine Adresse gefunden, an diesem Herbsttag ihres Lebens. Wer weiß schon, wieviel Sternlein stehen…
Die Redaktion der Weserbergland-Nachrichten.de lässt nachfolgend einen Teilnehmer dieser Bestattungsfeier zu Wort kommen. Mit seinen ureigenen Gedanken bei dem vorangegangenen Gottesdienst in der kleinen Friedhofskapelle. Der Name dieses trauernden Vaters ist anonymisiert worden und der Redaktion bekannt.
Gedanken eines Betroffenen
Zu den Sternen – der Beginn einer Reise
Von Harald T.
Von der Einladung zu der Trauerfeier an diesem Samstag fühle ich mich aus zwei Gründen angesprochen: Mir liegt nicht nur das Schicksal dieser kleinen Wesen am Herzen, denen keine noch so kurze bewusste gemeinsame Zeit mit ihren Eltern vergönnt war, sondern ich war auch selbst vor gut acht Jahren von diesem Schicksal betroffen. Zu einem Zeitpunkt, als es diese Form der Trauerfeier und Möglichkeit zur Trauerbewältigung leider noch nicht gab, die meiner Frau und mir in unserer damaligen Verzweiflung bestimmt sehr geholfen hätte.
Es ist dennoch zunächst ein merkwürdiges Gefühl, zu dieser Trauerfeier zu gehen, denn ich weiß nicht, was mich erwartet. Am Eingang der Friedhofskapelle legt sich meine Anspannung durch einen mitfühlenden Empfang. Ich sehe einen Tisch, auf dem viele Sterne aus Pappe in verschiedenen Farben liegen und es wird erklärt, dass die Stifte dazu da sind, auf dem (eigenen) Stern einen Abschiedsgruß zu hinterlassen.
Mit sehr einfühlsamen Worten begrüßen uns Diakonin Hodemann und Gemeindereferent Keil. Wir lesen gemeinsam die Verse 1 bis 10 des Psalms 139. Besonders die letzten beiden Verse haben mich sehr angesprochen: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.“ Die Sternenkinder stehen am Beginn einer gemeinsamen Reise und ich fühle, sie werden behütet sein.
Eine Kerze für alle Kinder, für die heute niemand da ist
Die Diakonin Hodemann erklärt, dass die zwei zusammengeklebten Sterne nun bald von uns getrennt werden müssen. Die einen, beschrieben mit unseren Gedanken und Wünschen, sollen nachher auf den kleinen Sarg geklebt werden und so die Sternenkinder auf ihrer Reise begleiten, die anderen verbleiben bei uns. Es ist für mich nicht nur eine symbolische Trennung, sondern die Möglichkeit, mich von meinem verlorenen Kind, meinem Schmerz und meiner Verzweiflung ein Stück weit lösen und einen Abschluss finden zu können. Gleichzeitig erhalte ich aber auch einen Ort, an den ich immer zurückkehren kann, einen Platz für meine stille Trauer und mein Gedenken.
Diakonin Hodemann und Gemeindereferent Keil entzünden nun eine große Kerze für die Sternenkinder und fordern uns auf, die Sterne nun zu trennen und in loser Folge nach vorne zu kommen. Wir treten an den Sarg und befestigen unsere Wünsche und Gedanken. Bevor wir zu unseren Plätzen zurückkehren, entzünden wir an der großen Kerze jeweils eine kleine und lassen sie gemeinsam in einer mit Sand gefüllten Schale leuchten. Mir schießen die Tränen in die Augen als Frau Hodemann eine weitere Kerze entzündet und sagt, diese ist für alle Kinder, für die heute niemand da ist.
Wir machen uns gemeinsam auf den Weg zu der Grabstätte
So verweile ich noch einige Zeit am Grab und denke, es ist ein wunderschöner Tag für den Beginn ihrer Reise. Die Sonne blinzelt zwischen den herbstlich gefärbten Blättern hindurch und erleuchtet mein Herz. Ich weiß, ihr werdet gut aufgehoben sein und „freue“ mich, dass ich jederzeit an diesen Ort des Gedenkens zurückkehren kann.
Ich wünsche euch alles Liebe auf eurem Weg zu den Sternen und werde an euch denken beim Blick in die sternenklare Nacht.