Der Kommentar
Warum das Katastrophen-Szenario zur atomaren Katastrophenschutz-Übung eine einzige Katastrophe ist
Von Ralph Lorenz
Was ist der Sinn einer Katastrophenschutz-Übung? Er besteht darin Schwachpunkte herauszufiltern, das komplexe Zusammenspiel vieler Hilfsorganisationen unter möglichst realistischen Bedingungen auf den Prüfstand zu stellen. Personal-, Ausbildungs- und Materialschwächen zu ermitteln. Dreh- und Angelpunkt ist aber ein nachvollziehbares Szenario unter Einschluss aller bisher gewonnenen Erkenntnisse.
Vor allem unter letzterem Aspekt erweist sich die in die Computersysteme im Hamelner Lagezentrum eingespielte „Lage“ als ein Kommandoauftrag aus Wolkenkuckucksheim. Der „GAU“ – der größte anzunehmende Unfall - wurde mit der größten anzunehmenden Einfalt szenarisch beschrieben. Ausgehend vom Ereignisort des Atomkraftwerkes Grohnde-Emmerthal wird lediglich eine sich ausdehnende radioaktive Schneise von knapp zehn Kilometer Länge angenommen. Schwerpunktmässig werden die Gebiete Coppenbrügge, Salzhemmendorf und Eschershausen von einer radioaktiven „Wolke“ erfasst und müssen entsprechend evakuiert werden. Der Kelch würde sogar gemächlich in Sichtweite an Hameln vorbeiziehen, es aber verschonen – vielleicht weil dort das Lagezentrum ist und sonst nicht einsatzfähig wäre?
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Entspannt könnten sich die Nachbarn in Ostwestfalen-Lippe – also in Nordrhein-Westfalen – und in Hessen zurücklehnen. Der tatsächlich häufige Wind aus dem Westen in Verbindung mit einem unerklärlichen Phänomen – der absoluten Windstille nach gerade mal zwölf Kilometern, gewissermaßen einer meteorologischen Abrisskante weit vor Hildesheim und der Landeshauptstadt Hannover – macht dieses eingespielte Szenario zu einem Bonsai-Kataströphchen. So was würde der ABC-Katastrophenzug in Marienau mit links bewältigen.
Die Lage ist extrem überschaubar - und deshalb nicht realistisch
Klar doch, dass der Landrat vor Ort, der die ersten Maßnahmen zu treffen hat, in Abstimmung mit dem Innenministerium, die Angelegenheit im wahrsten Sinn des Wortes für überschaubar hält – denn soweit kann er noch gucken, wenn er sich auf den Ith-Kopf stellen würde. Da muss er in keinen sauren Apfel beißen. Doch was hat das mit den Lehren aus Fukushima zu tun? Nichts – solche Szenarien entstammen dem technologiegläubigen Vorstellungsvermögen der 70er Jahre. Fukushima und Tschernobyl haben gezeigt, wie unkalkulierbar und großdimensioniert die Verbreitung freigesetzter Radioaktivität über große Höhen und Entfernungen hinweg sein kann. Über Stadtgrenzen, über Kreisgrenzen, über Landesgrenzen und Bundesgrenzen und über die Beschwichtigungslügen der Verharmloser hinweg! Als ob die am AKW Grohnde vorbeifließende Weser nicht unablässig radioaktive Partikel nach Bremen spülen würde.
Warum glaubt niemand dem Bundesamt für Strahlenschutz?
Nach einer Studie des Bundesamts für Strahlenschutz können bei einem Unfall in einem AKW selbst Gebiete in 170 Kilometer Entfernung noch auf Jahrzehnte unbewohnbar werden. Diese Info kommt wohlgemerkt aus einer Bundesbehörde, auf die offenbar niemand hören will. Das Undenkbare dieses am Samstag als Übungsgrundlage eingespielten Szenarios besteht nicht aus der seitens der Kernkraftbetreiber in Grohnde als extrem hypothetisch belächelten kerntechnischen Ausgangslage sondern aus der meteorologischen Szenario-Zwangsjacke der Katastrophen-„Planer“.
Ein übles Spiel, das da mit dem Landrat getrieben wird...
Am 6. Dezember werden sich die Innenminister der Bundesländer treffen um genau diese am Wochenende eingeübte Übungsannahme aufgrund ihrer Expertenaussagen als Absurdum zu überführen. Es ist ein makabrer Witz, dass ausgerechnet derjenige Landrat in Deutschland, der in einer scharfsinnigen Analyse die veränderten Parameter des Katastrophenschutzes vor dem Hintergrund von Fukushima aufgezeigt hat, dazu auserkoren worden ist, wider besseren Wissens schnell noch ein unrealistisch-naives Sandkastenspiel durchzuspielen. Ein Spiel mit dem Leben.