Der Kommentar
War die Mauer nur ein "Bollwerk". Und wenn ja, gegen wen?
Von Ralph Lorenz
Und täglich grüßt das Murmeltier. Hatte ich mich gestern an dieser Stelle gegen die unsägliche Bezeichnung „Gotteskrieger“ in den TV-Nachrichten gewehrt, so setzt sich die Sprachverirrung heute Morgen (um 7 Uhr) in den ARD-Nachrichten fort. Da wird die Mauer mal eben als „Bollwerk“ bezeichnet.
Gemeint ist nicht der Limes. Auch nicht die chinesische Mauer. Nein, es geht um die „Mauer“. Die Gefängnismauer aus den "DDR"-Zeiten. Die Mauer mit Stacheldraht, Sprengfallen und Schießbefehl. Die Mauer, die Deutsche daran hinderte ihre unmittelbaren Verwandten zu besuchen. Die Mauer, die Familien getrennt hat. Mütter und Väter von ihren Kindern. Und die Geschwister untereinander. Diese Mauer also taucht in den ARD-Nachrichten verniedlichend als Bollwerk auf.
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Wehret den Anfängen! „Bollwerk“ heißt Schutz-Zaun, Schutzmauer. Erich Honecker und Eduard Schnitzler würden sich vor Vergnügen auf die Schenkel klatschen, wäre es doch ein später Propagandasieg, dieses Verniedlichungs-Synonym in der hochamtlichen Tagesschau zu hören. Von einem angesehenen Tagesschausprecher, dem sich bei dieser Formulierung eigentlich die Fingernägel kräuseln müssten.
Willy Brandt würde sich hingegen im Grabe umdrehen, der verstorbene Publizist Gerhard Löwenthal (ZDF-Magazin) geradezu rotieren.
Die älteren Deutschen, die sich an die angeblich ewig währende Teilung Deutschlands noch erinnern konnten und mit klarem Verstand das Wort „Deutsche Demokratische Republik“ in Gänsefüßchen setzten, wissen nur zu gut wie zynisch die „Schutzwall“-Behauptung der von Moskau gesteuerten "DDR"-Funktionärskaste war. Sie entlarven sofort den sprachlichen und gedanklichen Fehlgriff in der sonst seriösen Nachrichtensendung.
Gefährlich wird es im Blick auf die junge Generation, die nach dem Mauerfall geboren worden ist und die jüngste innerdeutsche (nicht die deutsch-deutsche) Vergangenheit nur noch vom Hören-Sagen kennt. Das heißt in Freiheit und zunehmendem Wohlstand lebend. Sie können diese Manipulation durch Worte nicht vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen hinterfragen. Ohnehin greift im Zuge einer „DDR“-Nostalgie eine Verklärung des Unrechtsregimes um sich. An vorderster Stelle stehen dabei jene, die aus dem „DDR“-Staatsapparat heraus wendig die Seiten gewechselt haben und wie ein Korken wieder ganz oben schwimmen.
War doch angeblich alles nicht so schlimm. Einige von denen sind auch in den Nachrichtenredaktionen des einstigen Klassenfeindes auf gut dotierten Posten angekommen und betreiben geschickt ihre Geschichtsklitterung.