Der Kommentar
Viel Vergnügen beim Tatort mit Tukur - wirklich gestorben wird heute Abend woanders
Von Ralph Lorenz
Sonntag 12. Oktober 2014 - Kobane lautet das neue Synonym für Unmenschlichkeit. Aus dieser Stadt kommt der Atem des Todes, der an eine römische Arena erinnert zu Zeiten der Christenverfolgung.
Dieser Vergleich drängt sich auf. Doch es sind keine Gladiatoren, die gegeneinander antreten, sondern in erster Linie Opfer, die sich schlecht bewaffnet gegen das bestialische Vorgehen der radikalislamischen „Isis“ wehren. Von den Hügeln - in vermeintlicher Sicherheit – schauen derweil die Soldaten der Türken auf das Gemetzel herab und langweilen sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit, während zu ihren Füßen das große Sterben stattfindet. Es ist der Augenblick eines Genozids, eines Völkermordes gegen Kurden und Jesiden.
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Angeblich konnten die Türken bislang nicht helfend eingreifen weil ihr Parlament keinen entsprechenden Beschluss gefasst hatte. Dann lag dummerweise die Erlaubnis vor und die passive Haltung entlarvte sich als das, was sie von vornherein war.
Eine Ausrede zur Verschleierung der Taktik in Ankara. Erdogan und seine Helfer lassen die kurdische Stadt vor ihren Toren ausbluten wie ein geschächtetes Tier. Die Isis macht zu Gunsten des regionalen Vormachtdenkens in Ankara einen schmutzigen Job, begleitet nicht nur von der sichtbar gewordenen Duldung durch das türkische Militär sondern auch von einer verdeckten Unterstützung. Isis-Terroristen werden hinter türkischen Linien heimlich ärztlich versorgt – und das schon seit Monaten. Aber es finden offensichtlich auch Waffenlieferungen statt. Ist das alles weit weg von Europa, von Niedersachsen, vom Weserbergland?
Nein, die um Freiheit kämpfenden Kurden und deren Verwandte sind mitten unter uns. Und die naiven Jugendlichen, die vom „Gotteskrieger“-Geschwätz der Anchor-Men in den deutschen Hauptnachrichtensendungen sprachlich angefixt worden sind, ebenfalls.
Sie glauben an ein „Paradies“ mit Jungfrauen-Rundumservice in der ewigen Discothek des Jenseits und lassen sich vom Isis-Terror rekrutieren, selbstverständlich nur mit One-way-Ticket.
Es sind zugleich die Produkte unseres Schulwesens, das zwar einen sogenannten Ethikunterricht kennt, es aber nicht geschafft hat überzeugend Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens zu vermitteln.
Machen wir uns nichts vor: Die Frontlinien der geistigen Auseinandersetzungen laufen auch durch Europa, Niedersachsen und das Weserbergland. Salafisten und Isis-Befürworter gibt es auch in Hameln.
Es ist nur eine Frage der Zeit bis sie auch an der Weser aus ihren Löchern kommen.
Heute am Sonntag-Abend findet das Ritual deutschen Tatort-Guckens statt. Gut 47 Fernseh-Tote sollen es sein, die da für die beste Sendezeit ins Drehbuch geschrieben worden sind, ein neuer Rekord für Grusel-Deutschland.
Der eigentliche Tatort an diesem Abend ist aber Kobane. Da fließt das echte Blut. Von Frauen und Kindern und den Menschen, die ihre Familien verteidigen. Und die kurdischen Landsleute, die helfen wollen und ohnmächtig an der türkischen Grenze stehen, werden von türkischer Seite zurückgehalten.
Dieser Tatort ist auch ein Anschlag auf das Rechtsempfinden und die Fähigkeit zur Anteilnahme. Weil er mal wieder das Töten zur Unterhaltungskunst stilisiert. Nervenkitzel für Zuschauer. Unterlassene Hilfeleistung wird bei uns bestraft. Wer bestraft aber das Gaffertum an der Steiltribüne der Hügel von Kobane? Und vor unseren Fernsehapparaten? Viel Vergnügen beim Tatort mit Tukur.