Autor sieht Parallelen zu Gastarbeiter-Ali-Buch / Gespräch mit Neuer Westfälischer
Wallraff: Tönnies wird neue, raffiniertere Formen von Vertragsarbeit finden
Montag 27. Juli 2020 - Bielefeld (wbn). Wir leben in einer Kasten-Gesellschaft, lautet eine Wallraff-These.
Der legendäre Enthüllungsjournalist Günter Wallraff sieht Parallelen zwischen den Zuständen, die er bei seinen verdeckten Recherchen als "türkischer Gastarbeiter Ali" bei der Firma Thyssen in der 80er Jahren erlebte und den Schicksalen von Leih- und Werkvertragsarbeitern, wie sie jetzt beim Schlachtkonzern Tönnies bekannt wurden.
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"Für manche war es ein Schock, was sie da erfahren haben und ein Überdenken eigener rassistischer Vorurteile", sagte Wallraff gegenüber der in Bielefeld erscheinenden Neuen Westfälischen über die Wirkung seines Buchs "Ganz unten". "Das hat die Öffentlichkeit vielleicht so mobilisiert, wie jetzt der Fall Tönnies", so der Autor.
Er befürchte, "dass Tönnies neue, raffiniertere Formen von Vertragsarbeit finden wird", sagte Wallraff. "Außerdem ist Tönnies kein Einzelfall." Die Pflege oder die Reinigungsbranche seien ebenso betroffen.
"In solche Bereiche müssten verdeckte Ermittler rein", meint Wallraff. "Da geht es um den Artikel 1 unserer Verfassung - die Menschenwürde. Das wäre die Aufgabe des Verfassungsschutzes."
Wallraff ist überzeugt: "Eine Willensbildung aus der Bevölkerung kann für die Betroffenen Verbesserungen oder sogar langfristige Änderungen hervorrufen."
Allerdings beobachtet er in der Gesellschaft eine zunehmende Spaltung und Elitenbildung: "Einzelne Begegnungen mit den Problemen von anderen Menschen werden betrachtet wie eine Expedition in einen anderen Kontinent, da wird auch mal einer hingeschickt und darf staunen, was da los ist. Wir leben in einer Art Kastengesellschaft, wo wir alle allzusehr unter uns sind."