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Der Kommentar

Von Gaffern, Handy-Knipsern und Selfie-Verrückten an der Unfallstelle

Von Ralph Lorenz

Donnerstag 9. Juli 2015 - Das Gaffer-Problem an Unfallstellen hat es schon immer gegeben. Es liegt in der Natur des Menschen. Doch nie war es so exzessiv wie heute.

Denn es hat sich durch die Allgegenwart und Verfügbarkeit von Handys, Tablets und digitalen Consumer-Kameras auf unerträgliche Weise und mit weitreichenden Folgen verschärft. Berufsmäßige Pressefotographen halten sich an ein presserechtliches Regelwerk, das es schon seit Jahrzehnten gibt und stets modifiziert worden ist. Sie wissen wie weit sie gehen dürfen und wollen. Und auch, wann sie die Kamera gar nicht erst „draufhalten“. Denn auch die Fotoredakteure in den Zeitungen und Fernsehsendern halten sich an dieses Regelwerk und bringen nicht alles, was ihnen angeboten wird. Natürlich kann es auch hier Schwarze Schafe geben. Doch diese werden erfahrungsgemäß vom Deutschen Presserat gerügt. Doch letztlich ist es immer auch ein Drahtseilakt, der persönliches Fingerspitzengefühl erfordert. Die Profis in dieser Region, die ich kenne, verhalten sich aus meiner Beobachtung verantwortungsvoll.

 

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Die Weserbergland-Nachrichten.de arbeiten vertrauensvoll mit einer TV-Agentur zusammen, die ihr Filmmaterial mit den üblichen presserechtlichen Auflagen-Standards ausliefert. Etwas anderes kommt auch für uns nicht in Frage. Also: Keine personenbezogenen Daten, die auf die Identität eines Opfers Rückschlüsse zulassen würden. Es sei denn es ist ausdrücklich damit einverstanden. Auch so etwas gibt es.

Routinemässig schirmen heute Rettungskräfte ihre Arbeit mit Decken ab damit Notärzte im Sichtschutz arbeiten können. Anders können sie sich gegen Schaulustige, die hemmungslos ihre Handys in die Luft halten, sich jedem Regelwerk entziehen und massenhaft am Straßenrand stehen, nicht mehr helfen.

Die Gaffer, die mehr oder weniger zufällig am Ort eines tragischen Ereignisses stehen und sich in besonders schlimmen Fällen durch ihre Gegenwart selbstgefällig überhöhen wollen mit dem geposteten Bild, postulieren voller Stolz: „Ich bin dabei gewesen“. Wenn jemand wirklich stolz darauf sein könnte, dann nur der Helfer – der aber eben nicht nur dabei war sondern auch die erforderlichen lebensrettenden Maßnahmen ergriffen hat.Unter seelischem Stress, der oftmals einen Notfallseelsorger erforderlich macht.

Die eitle Selfie-Pose an einem Unglücksort ist der Höhepunkt der Pervertierung heutiger Echtzeitdokumente mit dem Fotoapparat. Der Vorfall in Bremervörde aber hat alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt. Ein Schaulustiger wollte sich einzig und allein durch Fotos von dem schrecklichen Geschehen an der Eisdiele mit Bildern der wehrlosen Unfallopfer im Internet brüsten. Als Polizisten gegen den eitlen Störer vorgingen, kam es kurz darauf zu Übergriffen uneinsichtiger Schaulustiger. Hier fehlte in erschreckendem Maße jegliches Unrechtsbewusstsein dieser Sympathisanten des Möchtegernpaparazzi.

Damit wurde der Einsatz der Rettungskräfte behindert, der ausgesprochene Platzverweis durch die Polizei auf sträfliche Weise ignoriert. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius will daraus die Konsequenzen ziehen. Und das völlig zu recht. Es geht darum die Persönlichkeitsrechte der Opfer zu schützen und die ungestörte Arbeit von Polizei, Sanitätern, Notärzten und Feuerwehrkameraden zu gewährleisten. Traurig, dass es überhaupt soweit kommen muss.

Allerdings verwischen sich am Unfallort oft auch die Grenzen. Es gibt auch Feuerwehrkameraden, die sich im Einsatz noch während des Rettungsgeschehens oder der Löscharbeiten gegenseitig fotografieren. Es gibt Bilder, die umgehend aus dem durchschaubaren Zweck unbedingt der „Erste“ sein zu wollen von den Uniformträgern selbst ins Internet gepostet werden. Und so ganz nebenbei gegen alle Datenschutzbestimmungen verstoßen: Mit klar lesbaren (also ungeschwärzten) Autokennzeichen des Unfallautos und mit Bildern von Opfern, die am Unfallort eindeutig zu identifizieren sind.

Vor kurzem sorgte ein Polizist für Aufregung, der von seiner Kollegin mit eindeutigem „Victory“-Zeichen an der Unfallstelle „geknipst“ worden ist. Aus dem Fahrzeugwrack heraus – und die Polizistin hatte dabei auch noch eine Zigarette in der Hand. Wenn schon denn schon. Später haben sich die Beteiligten entschuldigt als die Szene den Weg in die Presse fand. Aber auch hier gab es in sozialen Netzwerken absurde Kommentare, die dieses Fehlverhalten beschönigen wollten.

Fotos und Kamera-Bewegtbildaufnahmen sind, wenn es der Anlass durch seine Besonderheit rechtfertigt – und das kann immer auch eine sehr subjektive Entscheidung sein – ein wichtiges Zeitdokument im Blaulicht- und Katastrophenbereich. Gewisse Bilder können und sollen der Abschreckung dienen. Sie sind als Schockbilder für die Polizei inzwischen unerlässlich geworden in der Präventionsarbeit mit Jugendlichen.

Fotos haben mit ihrer Bildsprache sogar die Macht Kriege zu beenden. Das anrührende Foto von dem damals neun Jahre jungen vietnamesischen Mädchen Kim Phuc, das mit von Schrecken geweiteten Augen die Straße entlang rennt, ist so eines. Hinter sich die glutrote Hölle der amerikanischen Napalmbombe, die sich später sogar noch als "friendly fire" entpuppte. Dieses Foto hat die amerikanische Nation und die Welt geschockt. Es hat die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch in Paris geführt.

Doch dieses Photo enthält auch die ganze Problematik der Unfall-, Katastrophen- und Kriegsberichterstattung. Es wurde beschnitten und leicht bearbeitet. Es zeigt nicht den ebenfalls anwesenden, scheinbar teilnahmslosen Kriegsberichterstatter, der deshalb rechts im Bild weggeschnitten wurde und seelenruhig seinen Film gewechselt hatte ohne zu helfen.

Und überhaupt: Solch ein Bild würde heute von den Scharfrichtern der Political Correctness zerpflückt wenn nicht verhindert werden. Das Kind ist erkennbar. Geht aus heutiger Sicht schon gar nicht. Und dann noch nackt. Der Super Gau. Und dann kämen die Killerfragen, mit denen man alles plattwalzt: "Wem nützt das?" "Hat die Mutter ihr o.k. gegeben?" "Ist das nicht zu reißerisch?" "Es gibt doch auch schönere Fotos."

Was sagt uns das? Ein guter Fotograph sieht mit dem Herzen. Und darin steckt auch das Wort "beherzt sein". Er, der Fotograph, trifft eine einsame Entscheidung – wenn es überhaupt eine sein kann bei solch einem Vorgang einer 60. Sekunde, einer 125. oder 250. Sekunde.

Eines ist im Nachhinein unbestritten. Dieses beherzte Foto von einem nackten, minderjährigen, damals "namenlosen" Mädchen hatte einen Krieg beendet und gewaltige Demonstrationen in den Hauptstädten der Welt in Bewegung gesetzt. Weil es die Macht der Anteilnahme, der Empathie, des Mit-Leidens entfesselt hat.

Aber eben nicht weil es das Handy-Foto oder das Selfie eines geltungssüchtigen Gaffers war.

PS: Nick Ut, der dieses World Press Photo von 1972 gemacht und damit eine Ikone der Pressefotographie geschaffen hat, legte gleich nach der professionellen Aufnahmeserie seine Leica weg und kümmerte sich um das schreiende Kind, brachte es zu den Sanitätern, die seine Brandwunden mit der in Fetzen herunter hängenden Kinderhaut behandelten. Ebenso wie die Kollegen, die in seiner Nähe waren und sich der anderen Verletzten annahmen. Gaffer und Handy-Knipser machen das garantiert nicht.

 

 

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