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Der Kommentar

Warum ich Protestwähler scheiße finde

Von Ralph Lorenz

Die Zahl der unentschlossenen Wähler soll gestiegen sein. Damit kann ich gut leben. Das Potential der sogenannten „Protestwähler“ soll auch zugenommen haben. Das sehe ich eher kritisch.

Erstens: Stimmabgabe aus Protest. Das klingt zunächst mal gut und irgendwie supersuper-kritisch. Hier will jemand einen Denkzettel verpassen. Einer Partei, die er sonst gewählt hat oder wählen würde. Er will also jetzt eine Partei wählen, die er eigentlich nicht wählen würde. Tolle Logik.

 

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Aber es soll irgendwie irgendjemandem mächtig weh tun. Der Wahlzettel als Peitschenschlag. Was wählt man eigentlich um seiner Partei den größtmöglichen Liebesentzug zu beweisen. Die denkbar fieseste undemokratischste Alternative um dem ganzen „Parteiensystem“ eins auszuwischen? Ich habe sie akustisch vor mir, die Stammtisch- und Theken-Meinungsmacher. Sie haben nur einfache Antworten und einfache Sätze parat. Zwischen zwei Bier und ‘nem Korn. Soviel Zeit muss sein. Für mehr reicht‘s aber auch nicht. Weil ja zusammenhängende Sätze zusammenhängende Gedanken erfordern würden. Die Rede ist von den besten Fußballtrainern der Nation, die natürlich an der Theke ihren Stammplatz haben, den besten Spielern aller Zeiten, den größtmöglichen Klugscheißern und Rübeab-Hobbyjuristen.

Und dummerweise haben sie oft eines gemeinsam. Sie haben keinen Job, aber hohe Ansprüche und wissen wo’s gerade die besten Sonderangebote gibt oder für lau eine Bratwurst gegessen werden kann. Und wenn sie einen Job angeboten bekommen, haben sie gerade keine Zeit. Da kommt ein Kumpel, den sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Und das hat natürlich Vorrang. Denn menschliche Werte stehen schließlich über den materiellen.  Es ist ein wiederkehrendes Verhaltensmuster. Dafür befinden sie sich aber in einem permanenten Dauerprotest. Sie pumpen sich mit Bedeutung auf und leben auf Pump. Sie haben‘s schon immer gesagt. Und wenn man sie so hört, müssen sie schon mit einem reichen Erfahrungsschatz in der Wiege gelegen sein. Was geschieht also mit ihrer Protest-Stimme?

Sie gehört dann einer Partei nur so zum Spaß? Einer Partei, die keine Antworten, keine nachvollziehbaren Lösungsansätze und keine Parlamentserfahrung hat, aber diese geliehene, geparkte, buchstäblich abgegebene Stimme ausbeutet um der Demokratie und dem Gemeinwohl zu schaden? So dass den „etablierten Parteien“ dann vorgehalten werden kann: Das habt ihr davon! Ist das dann der erhoffte Denkzettel?

Der britische Brexit-Exitus: Ein Ergebnis von sogenannten "Protest"-Wählern, die der Regierung in London eins auswischen wollten und dann mit den Zähnen klapperten, als sie merkten, dass aus dem scheinbar unverbindlichen Protest blutiger Ernst geworden ist. Die Wirkung ihres Votings hatten sie nicht bedacht. Und der Protest-Horror in den USA erst. Er hat einen Psychopathen ins Amt katapultiert, dem erst die Welt erklärt werden muss. Die populistischen Versprechungen für seine Wählerschaft haben sich in Gespött aufgelöst. Und jetzt führt dieser Politik-Amateur den Globus an den Rand eines herbeigetwitterten Weltkrieges. Seine Wähler aus dem Underdog-Segment sind jetzt ohne Krankenversicherung. Und das "Amerika first"-Versprechen könnte nun bedeuten, dass Amerika an erster Stelle erstmals konkret von einer nordkoreanischen Atomrakete bedroht wird. Und dass die Mauer zur mexikanischen Grenze vor allem erdbebensicher sein muss, hatte Trump seinen Wählern auch noch nicht gesagt. Wo immer Protestwähler vor dem Hintergrund populistischer Dynamik das Wahlergebnis beeinflusst hatten, ist die Welt in Wirklichkeit unberechenbar geworden und erschüttert die internationale Gemeinschaft.

Sind diese sogenannten „Protestwähler“ genauso dumm wie die Nazi-Wähler, die mit ihrer Proteststimme die Weimarer Zeit haben kollabieren lassen? Doch neben diesen Theken-Losern gibt’s noch die bürgerlichen Früher-war-alles–Besser-Romantiker. Erkennbar an ihrem beigen Zwirn und den grauen Haaren. Vor Jahren hatten sie nur eine Priorität. Sichere Arbeitsplätzte.

Das war übrigens das Hauptmotiv für die GroKo in Berlin. Jetzt haben wir Vollbeschäftigung in einem Ausmaß, das unsere europäischen Nachbarn vor Neid erblassen lässt. Und plötzlich hat diese Berliner Koalition angeblich nichts zuwege gebracht und „muss weg“?

Das Gespenst der Arbeitslosigkeit ist dem Phantomschmerz der vermeintlichen Unsicherheit durch die Zuwanderung gewichen.

Die Wahrheit ist: Dieses Bündnis hat mehr zustande gebracht als versprochen wurde. Aber wer wagt das in aller Öffentlichkeit zu sagen? Richtig ist aber auch: Die Große Koalition hat zuwenig Fehler eingestanden und damit Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Auch in der Zuwanderungspolitik.

Zufriedenheit ist keine Währung auf den öffentlichen Marktplätzen der Meinung. Im Gegenteil: Viele schämen sich eingestehen zu müssen, dass es ihnen besser geht als gedacht. Daran hat ausgerechnet die Konsum-Werbung als allabendliches Trommelfeuer vor den Hauptnachrichten einen Schuldanteil. Der Typus Mensch von heute muss geltungssüchtig und fordernd auftreten, anmaßendes Gebaren als Normalzustand: „Das gönn ich mir, das steht mir zu!“

Haben Sie schon einmal eine Ich-brauch-das-nicht-Werbung gesehen?

Was wir nicht brauchen sind Protestwähler, die nur aus „Protest“ ihre Stimme verschenken. Was wir durchaus brauchen können, das sind Wähler, die so wählerisch sind, dass sie bis zur letzten Minute überlegen wem sie diesmal ihre kostbare Zustimmung anvertrauen wollen.

Vor diesen Leuten habe ich mehr denn je Respekt.

Die Zeit des Lager-Wahlkampfes ist vorbei. Die Zeit, als ganze Generationen die Parteizugehörigkeit mit Religion und Konfessions-Zugehörigkeit verwechselt haben.

Und noch eines: Politisches Bewusstsein äußert sich nicht am Wahlsonntag. Sondern in der Haltung zwischen den Wahlsonntagen.

Wer eine Partei, das Land, die Welt, das Klima verbessern will, der soll am Montag im Alltag gleich damit anfangen. Um im politischen und sozialen Engagement seine Erfahrungen machen zu können, um vor diesem Hintergrund auch verantwortungsvoll mitreden zu dürfen. Das impliziert ausdrücklich auch das Recht zum Protest. Denn dann wirkt er sich produktiv aus.

Betätigungsfelder für und im Sinne der Gemeinschaft gibt es genug. Im Betriebsrat. Im Kirchenkreis. Im Elternbeirat. im Gemeinderat. In der Bürgerinitiative - ja und auch im Verein.

Der Wahlzettel ist kein Wunschzettel. Er ist ein Handlungs-Auftrag an die, die wirklich seriös und handlungsfähig sind. Und dazu gibt es genug kleine und große Alternativen in unserer politischen Landschaft. Sie war noch nie so interessant wie heute.

Das Land, das sich aber über seine Politik beklagt, beklagt sich über sich selbst.

 

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