Der Kommentar
Griechenland ist Hartz IV geworden
Von Ralph Lorenz
Kann ein ganzes Land „Hartz IV“ werden? Die Griechen sind auf dem besten Weg hin zu diesem Phänomen, das es eigentlich nicht geben kann.
Dabei sperren sie sich gegen Auflagen der Geldgeber aus der Europäischen Union und fühlen sich gedemütigt. Menschen, die aufgrund einer Notlage schon einmal in einem Sozialamt vorsprechen mussten, können das den Griechen sogar nachempfinden. Für die stolzen Griechen ist es tatsächlich eine demütigende Zeit. Doch in einem altbekannten Reflex, der auch schon in griechischen Tragödien vorkommt, suchen sie die Schuld vor allem bei denen, die wirklich helfen wollen. Und nicht in den eigenen Reihen, bei den Vorgängerregierungen, die ihre Wahlsiege jeweils mit messianischen Wohlstandsversprechen erschlichen und schlicht gelogen haben.
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Mitarbeiter in Sozialämtern oder in den Jobcentern kennen die Situation: Sie werden von Bittstellern beschimpft, bedroht, beleidigt. Nicht von allen, aber eben doch tagtäglich. In der internationalen Presse lässt sich das auf Griechenland-Ebene nachlesen. Die Kanzlerin wird als KZ-Wächterin verunglimpft, die Finanzminister der Geldgeberländer mit Terroristen auf eine Stufe gestellt – und umso strahlender soll die kindliche Reinheit und Unschuld des griechischen Volkes dastehen.
Als hätte Europa gerade auf Tsipras gewartet: Ein Kommunist will der Union zeigen wie Wirtschaft geht
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Aber diese Regierungen hatte das griechische Volk tatsächlich nicht verdient. Wo ist ein einigermaßen funktionierendes Steuerwesen? Wer weiß überhaupt wie groß Griechenland ist? Die ungewisse Agrarfläche als Grundlage von europäischen Zuschüssen? Ein funktionierendes Katasterwesen?
Haben die griechischen Regierungen vor lauter Demokratie-Theater in stets der gleichen Rollenbesetzung einflussreicher Familienclans vergessen zu regieren?
Die traurige Wahrheit: Griechenland ist ein armes Dritte-Welt-Land mitten in Europa. Mit gerade mal soviel Einwohnern wie in Niedersachsen. Es war als sehr überschaubares Agrarland niemals Euro-fähig. Der Euro-Beitritt eine einzige Eulenspiegelei. Hier beginnt die Mitschuld der Europäer, die nur auf die geschichtsträchtigen griechischen Tempel gestarrt haben und die Realität der Volkswirtschaft mit ihrem Klientel- und Klüngelsystem ignorierten. Es ging um die Staffage, nicht um den Inhalt.
Das Referendum als Akt der Volksverdummung
Das sogenannte Referendum vom Sonntag erfolgte mit einer Fragestellung und unverhohlenen regierungsamtlichen Einmischung, die auf eine Volksverdummung hinausgelaufen ist. Erpresserische Elemente mit Rücktrittsdrohungen der Fragesteller und bewusstes Verschweigen der Konsequenzen, also Tatsachenverschleierung – das wird jetzt in Athen als Highlight demokratischen Regierungshandelns gefeiert. Das erzeugt in den europäischen Nachbarländern eher Ekel.
Innerhalb von 48 Stunden wollte der inzwischen zurückgetretene Griechen-Finanzminister frisches Geld auftreiben. Ein Versprechen, das ebenso vollmundig wie unverantwortlich weil unhaltbar ist. Abgegeben kurz vor der Wahl – eine besonders subtile Form der Erpressung und/oder Verführung des eigenen Volkes.
Am Sonntag hat Griechenland ungewollt über den Austritt aus dem Euro abgestimmt. Mit einem mehrheitlichen Nein, das die Geldgeber – nach griechischem Sprachgebrauch „Terroristen“ - nicht gerade ermutigt nochmals tief in die Tasche zu greifen. Die meisten Griechen dürften sich dessen nicht bewusst gewesen sein, weil die Fragestellung so manipulativ verklausuliert war, dass sie nicht einmal in den westeuropäischen Hauptstädten verstanden worden ist.
Auch derjenige, der Hilfe leistet, hat einen Stolz
Es gibt auch den Stolz des Gebers. Hilfe nicht um jeden Preis! Schon gar nicht in Verhandlungen mit einem Spieletheoretiker, der sich als Finanzminister ausgab. Und einem Regierungschef, der in der nachkommunistischen Ära meint Europa müsse sich an ihm als allzeit grinsenden Salonkommunisten ein Beispiel nehmen.
Das Problem der Europäischen Union und ihrer Instanzen war nicht etwa mangelndes Entgegenkommen gegenüber dem gerissenen "Auf Zeit Spieler"-Tsipras. Das Hauptproblem ist und wahr, dass Institutionen wie die Europäische Zentralbank (EZB) die eigenen Regeln überdehnt und den zögerlichen Politikern in Berlin und Paris damit einen Gefallen getan haben, der sich jetzt als Bumerang erweist. Die EZB-Notfallkredite sind mit Schuld an dem Ausmaß dieses Schlamassels. Grotesk: Weil Tsipras und sein Biker-Sturzhelm-Finanzminister sich von vornherein an keine Regeln gehalten haben, hat die EZB ebenfalls ihre eigenen Regeln missachtet - dafür aber nur Hohn und Spott aus Athen erhalten. EZB-Präsident Mario Draghi hat sich hier als der Mann erwiesen, der zur falschen Zeit am falschen Platz und somit überfordert ist. Überhaupt: Das Regelwerk Europas ist für Schönwetter-Politik gemacht, begleitet von Götterfunken. Das Gewitter-Tief aus dem Mittelmeerraum hatte niemand auf dem europäischen Wetterradar der Sonntagsredner.
Eine "Europäische Tafel" für Griechenland?
Natürlich stehen wir Europäer vor einer neuen Stufe der Solidarität. Dieser können und wollen wir Europäer uns in dieser Wertegemeinschaft nicht entziehen. Das wird aber in diesem Fall nach leidvoller Erfahrung kein aus der Hand geschlagener Milliarden-Euro-Kredit zur Selbsthilfe sein können, sondern humanitäre Hilfe unmittelbar für den Mann auf der Straße in Athen. Auch hier wieder eine Parallele zu Hartz IV und der Leistung von Sozialämtern: Wenn der Verdacht besteht, dass zweckgebundene Sozialhilfeleistungen für die Familie in Wirklichkeit zweckentfremdet verheizt werden, dann wird eben in Naturalien zur unmittelbaren Verwendung bezahlt. Oder es wird eine "Europäische Tafel" eingerichtet - niemand in Griechenland (wohlgemerkt, dem "Agrarland") soll verhungern.
Noch nie zuvor ging es dem griechischen Volk so schlecht wie unter dieser jetzigen Tsipras-Regierung aus Kommunisten und Ultrarechten. Sie haben das Land im Stil der Vorgänger mit narzisstischen Parolen und nationalem Tunnelblick „gegen die Wand gefahren“ und den Niedergang auch noch als Erpressungspotential missbraucht.
Renten für die ganze Familie...
Vor diesem Hintergrund ist es sogar nachvollziehbar, dass Tsipras trotz Forderungen der Geldgeberländer das Rentensystem nicht angetastet hat. Denn in einem Land, das trotz mehrfacher sozialistischer Regierungsgewalt keinerlei Arbeitslosengeld kennt, sind die Renten zu einem überfrachteten Sozialsystem geworden, das auf Familienebene wiederum die Renten auf die Jüngeren umverteilt. So leben ganze Großfamilien davon. Ein typisch griechisches System, das sich der Normalität verweigert.
Während Brüsseler Bürokraten sich immer neue Normen ausdenken ist die Grundnorm der Zukunftsfähigkeit in einem ganzen Mitgliedsland verspielt worden. Griechenland muss wieder das Gehen lernen. Und die Gehhilfen, sprich Finanzkrücken, sind nun mal schmerzhaft und unbequem.
Aber sie helfen auf lange Sicht weiter.