Der Kommentar
Nach dem Sexualmord kam der Rufmord - wie ein soziales Netzwerk zur asozialen Plattform verkommt
Von Ralph Lorenz
So einfach ist es also in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Sie sieht, dass da Handschellen klicken. Und schon wird aus dem Tatverdächtigen der Täter. Staatsanwaltliche Ermittlungen werden eilfertig mit Verurteilung gleichgesetzt. Das Rechtsverständnis in unserer Gesellschaft ist – das zeigt der dramatische Fall der öffentlichen Vorverurteilung eines angeblichen Kindesmörders in Emden – erschreckend unterentwickelt. Kreuziget ihn! Da war doch was nach Christi Geburt…
Da war einer, der in Verdacht stand sich auf einen weltlichen Thron schwingen zu wollen, seine Mitstreiter behaupteten gar, er sei in göttlicher Mission in den Gassen von Jerusalem, am See Genezareth und am Ölberg unterwegs. Es wurde nach ihm gefahndet. Er wurde in aller Öffentlichkeit „abgeführt“ und „vorgeführt“ – also musste er was verbrochen haben. „Von nichts kommt nichts“, sagt der Volksmund, der nicht immer vom Verstand gesteuert ist - sondern einfach auch mal seine Klappe halten sollte, wenn die Lage noch unklar bleibt. Wir haben jetzt nicht nur die schreckliche Gewissheit, dass ein Mädchen in der dunklen Ecke eines Parkhauses sadistisch ermordet worden ist. Wir haben jetzt auch ein zweites Opfer. Einen jungen 17-jährigen Hauptschüler, der von Nachbarn denunziert, von „Ermittlern“ zum Verhör abgeführt und von der Öffentlichkeit vorverurteilt wurde. Als Durchlauferhitzer erwiesen sich dabei einmal mehr die elektronischen Medien vor Ort. Der junge Hauptschüler wäre das zweite Todesopfer gewesen, wenn es nach dem 18-jährigen Heckenschützen im Internet gegangen wäre, der auf facebook zur Lynch-„Justiz“ aufgerufen hat.
Fortsetzung von Seite 1
Zum knackigen Rüstzeug hackenschlagenden Rechtsempfindens in der Lufthoheit von Stammtischen gehört das Wort vom „kurzen Prozeß“, der zu machen sei. Denn lange können diejenigen, die ihn stets als erste fordern, sowieso nicht nachdenken. Wenn es um Sexualdelikte geht läuft das „gesunde Volksempfinden“ zur Höchstform auf. In einer Weise, die schon wieder Verdacht erwecken muss. Man sollte nur einmal hinhören, welch perverse Phantasien die selbst ernannten Richter an der Kneipentheke entwickeln, wenn sie den vermeintlichen Täter zu fassen bekämen und ihn bestrafen würden. Die von ihnen beschriebenen sadistischen Details der phantasierten Vorgehensweise lassen vermuten, dass der eine oder andere auch das Schwein in sich selbst warnt. Gleichzeitig ist es die Chance zum Nulltarif der Moral deutlich zu machen, dass man wieder mal auf der „richtigen Seite“ steht.
Da lief der Mob zur Hochform auf
Das sogenannte „soziale Netzwerk“ facebook hat sich mit dem Fall der Vorverurteilung in Emden entzaubert. Als in Wahrheit asozial. Es genügte der mörderische Aufruf, sich vor der Polizeiwache in Emden zum Zweck der Lynchjustiz zu versammeln – schon lief der Mob zur Hochform auf. Befeuert in facebook-Foren. Mordgedanken wurden „mit Freunden geteilt“. Derlei Hysterie ist nur aus Breitengraden bekannt, von denen sich das angeblich aufgeklärte Abendland weit entfernt glaubte. Oder es wurde aus dem Mittelalter überliefert.
Erschreckend wenige haben den 18-Jährigen, der glaubte mehr zu wissen als die ermittelnde Polizei und im Namen angeblicher Gerechtigkeit zur Todesstrafe aufrief, öffentlich auf facebook und im Internet zurechtgewiesen. Erst jetzt erhebt sich die Stimme der Besonnenheit. Das ist für unsere Gesellschaft ebenso beschämend wie die öffentliche Aufforderung zu einem Tötungsverbrechen an einer nunmehr nachweislich unschuldigen Personen.
Begünstigt wird diese Verrohung und Verwahrlosung des Umgangs im Internet durch die Feigheit nicht zur eigenen "Meinung" zu stehen und sich auch noch hinter der Anonymität erbärmlicher Kürzel und Pseudonyme zu verstecken.
Gleichzeitig kommt ein archaischer Opfergedanke hinzu, wenn jetzt sogar die Überlegung angestellt wird, dass es den betroffenen Hinterbliebenen "geholfen hätte", wenn dieser junge Hauptschüler "der Täter gewesen wäre". Ticken diejenigen noch richtig? Tatsächlich fielen Bemerkungen wie „schade, dass er es nicht war“. Sind wir also schon so krank im Hirn, dass wir um jeden Preis ein Opfer vorgeführt bekommen wollen?
Nicht nur die Polizei hat Fehler gemacht
Die Polizei hat offensichtlich Fehler gemacht, die auch durch den sogenannten „Öffentlichkeitsdruck“ zu erklären sind. Wenn TV-Leute „Ergebnisse“ verlangen weil sie gleich „auf Sendung“ gehen, wenn Online-Medien minutiös Ermittlungsschritte begleiten und die Polizeipressestelle beziehungsweise die Pressestelle der Staatsanwaltschaft mit nicht zu beantwortenden Fragen bombardiert werden, dann haben wir es mit einer medialen „Echtzeit“-Kultur zu tun, die der Momentaufnahme bereits einen finalen Charakter gibt und Scheinergebnisse geradezu provoziert.
Es war das nachweislich falsche Signal, den tatverdächtigen jungen Mann in Handschellen auf der Bühne der Öffentlichkeit vorzuführen. Denn damit galt er als „über-führt“. Genau diese Bilder will der Reporter vor Ort haben. Somit sollten wir alle die Lehren aus diesem Emdener Vorfall ziehen. Die Handschellen-Szene mit einem Mann, der in keiner Weise überführt worden war, ist mit einer öffentlichen Hinrichtung gleichzusetzen. Zum Sexualmord in der dunklen muffigen Parkhausecke, Schauplatz vieler Frauenängste, kam der Vollzug des Rufmordes im grellen Licht der Öffentlichkeit.
Das soziale Netzwerk ist ein Missverständnis
Polizei, Justiz, Medien und Internet-"Community" haben sich blamiert. Die Lehre ist auch: Das „soziale Netzwerk“ ist ein Missverständnis und muss sich erst noch als sozial erweisen. Die Kulturlosigkeit bis hin zur Selbstjustiz-Mentalität kann nicht zum Dogma werden und als Nachweis grenzenloser „Freiheit“ dienen. Hier ist auch die „Piratenpartei“ gefordert, die sich nicht länger hinter ihrer nicht unsympathisch-naiven Gründerzeit-Unschuld verbergen darf. Von ihr sind rechtsstaatliche Vorschläge zu erhoffen, wenn sie wirklich die Zukunft des Internets mitgestalten wollen. Das gilt aber auch für das ganze Parteienspektrum, das ebenso Antworten schuldig geblieben ist.
Doch zunächst gilt unser aller Hoffnung den Fortschritten der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Soviel ist sicher: Der Täter läuft noch frei herum. Und der Rechtsstaat weiß, was er mit ihm zu machen hat.
Die Hinterbliebenen des Opfers verdienen unser aller Anteilnahme. Wenn sich der Voyeurismus von ihnen abwendet, dann sind sie ganz allein. Niemand kann sich das vorstellen. Für dieses Leid gibt es keine Worte.