Kein Behördenversagen, keine Angriffspunkte? / Die komplette Begründung im Wortlaut
Staatsanwaltschaft hat vierzehn Verfahren im Missbrauchsfall von Lügde eingestellt - auch gegen Jugendamtsmitarbeiter in Hameln
Mittwoch 11. März 2020 - Detmold (wbn). Es ist ein Paukenschlag aus Detmold, der bei manchen Beobachtern der juristischen Aufarbeitung des spektakulären Missbrauchsskandals in Lügde spontan Fassungslosigkeit hinterlässt: Die dortige Staatsanwaltschaft hat heute bekannt gegeben, dass sie in diesem Zusammenhang vierzehn (!) Verfahren eingestellt hat.
Das gilt sowohl für Ermittlungen gegen sechs Mitarbeiter des Jugendamtes Hameln-Pyrmont als auch für die Verfahren gegen zwei Polizeibeamte, eine Mitarbeiterin des Lipper Jugendamtes, für vier Familienhelfer und auch eine unbekannte Person, die 155 CDs und DVDs hat verschwinden lassen.
Die Weserbergland-Nachrichten.de veröffentlichen hiermit die komplette Erklärung der Detmolder Staatsanwaltschaft vom heutigen Tage. Sie wird auch in den kommenden Tagen die Öffentlichkeit beschäftigen und betrifft insbesondere das Verhalten einiger Mitarbeiter des Kreisjugendamtes in Hameln, das in seiner Umstrittenheit zu einer tiefen Verunsicherung der Bevölkerung im Weserbergland geführt hatte. Kein Geringerer als Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul hat vergangenes Jahr im Fall Lügde von einem regelrechten „Behördenversagen“ gesprochen. Und weiter: „Meine Oma hätte gemerkt, dass da was nicht stimmt!“ Der Detmolder Oberstaatsanwalt Ralf Vetter, der heute die Einstellung der Verfahren begründete, räumt indessen gegenüber dem WDR ein: „Es hat zweifellos Pannen bei Polizei und Jugendämtern gegeben“. Aber für die juristische Entscheidung seien diese nicht ausschlaggebend gewesen.
Im Wortlaut: „Der Pressedezernent der Staatsanwaltschaft Detmold:
Weitere Verfahrensabschlüsse im Lügdekomplex
Die Ermittlungen gegen Mitarbeiter der Polizei Lippe, der Jugendämter Hameln-Pyrmont und Lippe sowie gegen vom Jugendamt beauftragte Familienhelfer haben nicht zu einem hinreichenden Tatverdacht geführt, so dass die Verfahren mittlerweile eingestellt wurden. Ein Verfahren gegen einen Beamten der Kreispolizeibehörde Lippe wurde am17.12.2019 eingestellt. Dem mittlerweile regulär pensionierten Polizisten wurde der Vorwurf gemacht, einen im August 2016 eingegangenen Hinweis eines Zeugen bzw.des Kinderschutzbundes nicht an das damals zuständige Kriminalkommissariat in Blomberg zur weiteren Bearbeitung weitergeleitet zu haben. Anhand der Akten der Jugendämter konnte nachvollzogen werden, dass der Beamte einen Vermerk über die von ihm mit den Zeugen geführten Telefonate gemacht hatte. Er hat sich gegenüber der Staatsanwaltschaft unwiderlegbar eingelassen, diesen Vermerk an das zuständige Kriminalkommissariat weitergeleitet zu haben. Aufgrund des Zeitablaufs und eines damaligen Computerausfalls ließ sich nicht mehr aufklären, warum dieser Vermerk zwar zeitnah den beteiligten Jugendämtern übermittelt wurde, im Kriminalkommissariat aber anscheinend ein Vorgang nicht angelegt und weiter bearbeitet wurde. Es hat sich daher nicht feststellen lassen, dass der
Polizeibeamte nicht das im Rahmen seiner Zuständigkeit Erforderliche veranlasst hat. Ein weiteres, gegen eine Polizeibeamtin geführtes Verfahren beinhaltete den Vorwurf, aufgrund eines Hinweises einer Mitarbeiterin des Jobcenters des Kreises Lippe im November 2016 nicht ermittelt und diesen Hinweis auch nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet zu haben. Das Verfahren ist ebenfalls bereits Ende 2019 eingestellt worden, weil der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt oder der Beihilfe zum sexuellen Missbrauch (jeweilsdurch Unterlassen)durch die Ermittlungen nicht erhärtet werden konnte.
Die beschuldigte Polizeibeamtin hatte aufgrund des Hinweises Telefonate mit Mitarbeiterinnen der Jugendämter in Lippe und Hameln geführt und war danach offenbar überzeugt, ein sexueller Missbrauch durch Andreas V. habe tatsächlich nicht stattgefunden. Der für eine Strafbarkeit erforderliche Vorsatz war somit nicht festzustellen. Das gegen Unbekannt geführte Ermittlungsverfahren wegen des Verschwindens von 155 CDs und DVDs in einem Aluminiumkoffer und einer CD-Mappe aus den Räumen der Kreispolizeibehörde Lippe wurde durch die Staatsanwaltschaft Detmold mit Verfügung vom 05.02.2020 eingestellt. Einen Anfangsverdacht gegen einen Polizeibeamten oder eine andere Person haben die Ermittlungen nicht ergeben. Der Verbleib der Asservate bleibt jedoch weiter ungeklärt. Nach den als glaubhaft einzustufenden Angaben des mit der Sichtung der Datenträger beauftragten Kommissaranwärters handelte es sich ganz überwiegend um ältere Computerprogramme, Musik-CDs und Spiel-und Kinderfilme. Dateien mit pornographischem Inhalt befanden sich nicht darunter.
Die Verfahren gegen sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes Hameln-Pyrmont sowie gegen dessen Leiter, gegen eine Mitarbeiterin des Jugendamtes Lippe und gegen drei externe Familienhelferinnen wurden jeweils am 04.02.2020 wegen Fehlens eines hinreichenden Tatverdachts eingestellt, weil aus tatsächlichen Gründen eine Verletzung der Fürsorgepflicht nicht festgestellt werden konnte.
Hinsichtlich möglicher Entwicklungsschäden durch die mangelhafte Unterbringung des Kindes in einem Wohnwagen auf einem Campingplatz unterhygienisch fragwürdigen Zuständen bei einer Perso ohne anerkannte Erziehungskompetenz konnte nicht festgestellt werden, dass objektiv die Gefahr erheblicher körperlicher oder psychischer Entwicklungsschäden bestand. Während in den ersten Berichten des Jugendamtes, als das Kind noch bei der Kindesmutter war, von erheblichen Entwicklungsverzögerungen und von der Gefahr einer geistigen Behinderung die Rede war, wird das Kind, welches erst unter der Obhut des Andreas V. regelmäßig den Kindergarten besuchte, später insbesondere von den Mitarbeitern der Familienhilfe als aufgeweckt etc. beschrieben. Hinsichtlich der Gefährdung des Kindes durch den sexuellen Missbrauch war bei keinem der Beschuldigten ein Vorsatz feststellbar. Auch wenn die Beschuldigten intensive Versuche, die ihnen zur Kenntnis gebrachten Verdachtsmomente durch wie auch immer geartete Untersuchungen zu bestätigen oder auszuräumen, nicht unternommen wurden, kann letztlich nur festgestellt werden, dass alle Beschuldigten davon ausgingen, dass ein sexueller Missbrauch nichtstattfand, weil das Kind ihnen und den anderen bei der Betreuung des Kindes involvierten Personen gegenüber keine Verhaltensauffälligkeiten zeigte.
Auf Nachfrage haben die jeweiligen Familienhelferinnen bestätigt, dass Anhaltspunkte für einen sexuellen Missbrauch nicht vorlägen. Das Unterlassen weiterer Aufklärung, z.B. durch eine Befragung oder Begutachtung des Kindes, würde allenfalls einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründen können, wobei aufgrund des späteren Aussageverhaltens fraglich ist, ob eine Begutachtung oder Befragung des Kindes überhaupt zu einer Offenbarung des sexuellen Missbrauchs geführt hätte oder das Kind nicht vielmehr versucht hätte, seinen Pflegevater zu schützen.
Bezüglichder Mitarbeiterin des Jugendamtes Lippe ergab sich zusätzlich, dass sie die ihr zugetragenen Missstände unverzüglich an das zuständige JugendamtHameln-Pyrmont weitergeleitet hat. Sie hat, als nach dem Hinweis der Mitarbeiterin des Jobcenters eine akute Kindeswohlgefährdung durch die Unterbringung des Kindes auf einem Campingplatz zu befürchten war, unverzüglich einen Hausbesuch durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Anhaltspunkte für einen sexuellen Missbrauch nicht ergeben. Die Wohnsituation hat sie zwar als grenzwertig jedoch für nicht so schlimm erachtet, dass eine sofortige Herausnahme des Kindes erforderlich gewesen wäre. Auch insoweit hat sie ihre Bedenken aber unverzüglich dem Jugendamt Hameln-Pyrmont mit geteilt. Weiter hat sie zeitnah eine erneute Überprüfung der Wohnsituation durchgeführt und festgestellt, dass diese zumindest für die aktuelle Situation hinnehmbar war. Grundsätzliche Bedenkenhat sie aber erneut dem Jugendamt Hameln-Pyrmont mitgeteilt. Auf eine weitere Meldung der Jobcentermitarbeiterin, in der sich nunmehr auch Hinweise auf einen möglichen sexuellen Missbrauch ergaben, hat sie wiederum unverzüglich dem Jugendamt Hameln-Pyrmont Mitteilung gemacht. Die Polizeiwar, wie sie wusste, bereits involviert. DieMitarbeiterin des Jugendamtes Lippe konnte vor dem Hintergrund der engmaschigen Betreuung des Kindes durch das Jugendamt des Kreises Hameln-Pyrmont sowie aufgrund der Einschaltung der sozialpädagogischen Familienhilfe davonausgehen, dass für ein Eingreifen desJugendamtes des Kreises Lippe kein Anlass bestand und sowohl durch die Polizei, als auch durch das zuständige Jugendamt Hameln-Pyrmont eine ordnungsgemäße Überprüfung der Vorwürfe erfolgen werde.
Eine Strafbarkeit wegen eines Urkundendelikts durch Einfügen bzw. Austausch vonSeiten in der Jugendamtsakte des Kreises Hameln-Pyrmont durch eine der Mitarbeiterinnen sowie den Amtsleiter schied sowohl aus rechtlichen als auch tatsächlichen Gründen aus. Wesentlicher Gesichtspunkt ist, dass es sich bei der betreffenden Akte nicht um eine Gesamturkunde handelt. Ein Verfahren gegen den zuletzt tätigen Familienhelfer wurde bereits am 17.06.2019 wegen Fehlens eines hinreichenden Tatverdachts eingestellt, da sein Aufgabenbereich durch das Jugendamt nicht klar definiert war und eher die Unterstützung des Pflegevaters als die Fürsorge des Pflegekindes umfasste. Er war nur unzureichend informiert, insbesondere in keiner Weise über den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs.“